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neděle 29. května 2011

Das „Graseln“ mit tschechischen Freunden hat mir mehr getaugt als echte Schießübungen mit Luftgewehr

Ein Interview mit dem Brünner Zeitzeugen Hugo Fritsch
Verweis: Tschechischer Text - Český text
Lukas Beer
Der Brünner Zeitzeuge Hugo Fritsch erschien in den Jahren 1943-1944 regel-
mäßig in diesem Haus in der Talgasse 65 zu seinem Dienst als kleiner Pimpf.
1902 ließ dieses Haus die studentische Verbindung "Moravia" erbauen und
selbst im neuen tschechoslowakischen Staat beherbergte das "Moraven-
haus" eine gleichnamige beliebte Gastwirtschaft.
Während der Arbeiten an einem neuen Teil unserer Serie über das Kuratorium für die Jugenderziehung in Böhmen und Mähren (eine 1942 im Protektorat Böhmen und Mähren gegründete und staatlich organisierte Jugendorganisation, die ganz nach dem Vorbild der deutschen HJ im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie junge heranwachsende Tschechen zum Reichsgedanken (um)erziehen wollte) kam ich auch auf jenes Ereignis zurück, wo im März 1944 nach Brünn, in die mährische Landeshauptstadt, eine mehrtägige Tagung der Bezirksbeauftragten des tschechischen Kuratoriums für die Jugenderziehung berufen wurde. Neben den eigentlichen Beratungen und reichhaltiger kultureller Umrahmung der Kuratorium-Tagung standen naturgemäß auch etliche öffentliche Auftritte, wie etwa Aufmärsche uniformierter Kuratorium-Funktionäre durch die Innenstadt oder etwa Kundgebungen für die tschechische Öffentlichkeit, auf dem Programm. Aber auch ein offizieller Besuch einer ganzen uniformierten Kuratorium-Abordnung in einem Lehrlingsheim der Hitler-Jugend in der Talgasse zählte zur offiziellen Zeremonie der Tagung der tschechischen NS-Jugendorganisation im Frühjahr 1944 in Brünn. Einige der tschechischen Besucher hatten sich sogar mehrere Tage im großen HJ-Heim aufgehalten, um sich von deutschen Kameraden in puncto Organisation und Verwaltung eines vorbildlichen HJ-Heimes Einiges abzuschauen – mit dem Aufbau ähnlicher Jugendheime für die tschechische Jugend im Protektorat hatte man tschechischerseits mittlerweile nämlich auch schon begonnen.

Allerdings: was die vormilitärische Ausbildung der Hitlerjungen anbelangt, hinkte die neue, staatlich verordnete tschechische Jugenderziehung, hinter dem deutschen Vorbild wesentlich nach – an bewaffnete junge Tschechen, die an der Seite der Wehrmachtsoldaten gegebenenfalls ihr Leben für den Endsieg opfern sollten, war vorerst absolut nicht gedacht. An geistige Erziehung im Sinne des Nationalsozialismus allerdings schon. So setzten sich die jungen Tschechen etwa mit „Grundsätzen der Rassen- und Juden-Problematik“ auseinander, befaßten sich ausgiebigst mit den vermeintlich schädlichen Auswirkungen des Liberalismus und der bolschewistischen Gefahr aus dem Osten und auch der Stellenwert einer selbstlosen Aufopferung für die „Gemeinschaft“ wurde ihnen von den eigens ausgebildeten Erziehern stets erläutert. Als Auffangbecken für das gesamte Umerziehungvorhaben der heranwachsenden tschechischen Jugend im Protektorat dienten in erster Linie Sport und Körperertüchtigung, denen sehr viel Platz und Bedeutung zugemessen wurde, sowie unzählige kulturelle und sogar offen nationalbewußt ausgerichtete Veranstaltungen, mit Auftritten von scharenweise in nationalen und lokalen Volkstrachten verkleideten tschechischen Jugendlichen. Und dies stets unter wachsamen Augen der deutschen Berater aus den Reihen der Hitler-Jugend, die mit Rat und Tat zur Seite standen. Auf den immer präsenten vorbildlichen Stellenwert der HJ für die „neue tschechische Jugend“ weist nicht zuletzt allein die Tatsache hin, daß der Tag der Aufnahme neuer Kuratoriumsmitglieder (vollendetes 10. Lebensjahr) genau auf den selben Tag fiel, an dem auch deutsche Pimpfe in die Reihen der Jugenderziehung aufgenommen wurden, nämlich alljährlich am 20. April, dem Geburtstag des Führers.

Eine uniformierte Abordnung des Kuratoriums für die tschechische Jugend-
erziehung marschiert Anfang März 1944 durch die Brünner Innenstadt bis
ans eigentliche Ziel - das Jugendheim der Hitler-Jugend in der Talgasse.
Die tschechischen Jugendführer marschierten im März 1944 durch die Brünner Innenstadt die Talgasse hinauf, bis zum besagten HJ-Heim, angeblich einem der größten seiner Art im gesamten Deutschen Reich, wie das offizielle Presseorgan des tschechischen Kuratoriums "Zteč" seinerzeit stolz berichtete. Den Jugendführern wurde dann  kompletter Einblick in das „Innenleben“ des vorbidlichen Jugendheimes gewährt, einschließlich Besichtigung der Küche, sämtlicher Sanitäreinrichtungen und Innenaustattung der einzelnen Zimmer. Das Heim war als Aufenthalts- und Übernachtungsort für außerhalb von Brünn wohnhafte deutsche männliche Lehrlinge gedacht, die sonst auf zeitaufwendiges tägliches Pendeln nach Brünn und retour angewiesen gewesen wären. Für ihre Freizeitgestaltung war natürlich auch dementsprechend gesorgt.

Mein Augenmerk richtete sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die Frage, ob das besagte Gebäude in der Brünner Talgasse heute überhaupt noch steht und nicht etwa den alliierten Bombenabwürfen auf die mährische Landeshauptstadt Ende des Krieges zum Opfer fiel - immerhin waren auch gerade der Talgasse nicht gravierende Beschädigungen durch die Luftangriffe erspart geblieben.

Brünner Beamtenviertel: an dieser Stelle trug die Straße vorerst den Namen Scheffelgasse, erst später wurde auch dieser Teil der Straße auf Talgasse umbenannt. Heute trägt sie den Namen Údolní.
Die Talgasse (bzw. Scheffelgasse, Údolní auf tschechisch) schlängelt sich im leichten Bogen ausgehend von der Innenstadt hinaus sanft aufwärts in nordwestlicher Richtung, wo sie letztendlich mitten in dem prachtvollen gutbürgerlichen Brünner „Beamtenviertel“ (Schreibwald, heute Masarykova čtvrť) mündet. Bei der Suche nach dem geheimnisvollen Gebäude, welches seinerzeit in ein HJ-Jugendheim umfunktioniert worden war, kam mir zwangsläufig der Name des Brünner Zeitzeugen Hugo Fritsch (geboren 1933 in Brünn) in den Sinn, von dem ich wußte (nicht zuletzt dank einem Interview, das uns Herr Fritsch bereits vor mehreren Monaten gab), daß er seine halbwegs gücklichen Kinderjahre gerade in unmittelbarer Nähe der Talgasse verbracht hatte, ehe er 1945 unter dramatischen und menschlich belastenden Umständen nicht nur seine angestammte Heimat komplett mit Hab und Gut verlor, sondern auch noch um alle seine Nächsten, seine Familie kam. Ein Krieg kennt bekanntlich viele Gesichter. Für viele deutschsprachige Brünner begann die Sorge um Leib und Leben erst im Frühjahr 1945, oder hatte bereits in den letzten Monaten oder Wochen des Krieges ihren Anfang genommen. Wie etwa bei der Familie von Armin Fritsch, einem tschechoslowakischen Staatsbürger deutscher Nationalität aus dem mährischen Brünn. Als die russische Front immer näher rückt, beschließt die Familie Richtung Deutschland zu fliehen. Alles lässt sie zurück. Der einzige, der Deutschland lebend erreichen wird, ist der zwölfjährige Hugo Fritsch. Festgehalten hat Hugo Fritsch seine Erinnerungen in seinem Buch "Hugo, das Delegationskind", das mittlerweile sowohl in deutscher als auch in tschechischer Sprache erschienen ist.

Mit einem Hauch von Hoffnung, Herr Fritsch würde sich an das von mir gesuchte HJ-Jugendheim vielleicht in irgendeiner Form noch erinnern, da sich dieses wirklich nur den sprichwörtlichen Katzensprung von jener Stelle befunden haben muß, an der das Haus der Familie Fritsch auch heute noch steht, wandte ich mich an den fließend Tschechisch sprechenden Brünner Zeitzeugen mit der Frage, ob er das besagte „große“ HJ-Jugendheim überhaupt kenne: „Das sogenannte große HJ-Heim in der Talgasse ist gar nicht so groß. Es ist am Ende der Talgasse (vormals Scheffelgasse), gleich danach geht es den Berg hinauf, auf der linken Seite Stadt auswärts. Und ist das ehemalige Studentenhaus der Moravia. Unten befand sich eine Gastwirtschaft. 1. OG und ausgebautes Dachgeschoß waren ehemalige Studentenwohnungen. Moravia war eine deutsche Brünner Studentenvereinigung, die der Hitler aufgelöst hat. Was oben war weiß ich nicht, die Gastwirtschaft wurde als Zusammenkunft von HJ aber auch von den kleinen Pimpfen genützt“, bekam ich von ihm als Antwort. Bald waren wir uns auch darüber einig, um welches konkrete Gebäude es sich gehandelt haben muß, und wir können es mit gemeinsamen Kräften sogar noch orten und finden. Dennoch: der zugegebenermaßen prachtvolle Bau wirkt auf den ersten Blick nicht gerade als „groß“, geschweige denn als „eines der größten HJ-Heime seiner Art im gesamten Reich“. Gab es in der Brünner Talgasse zusätzlich vielleicht doch noch ein wirklich großes Objekt, das der Hitler-Jugend diente? Laut Überlieferungen soll sich nämlich vor dem Gebäude ein kleines Pförtner-Häuschen befunden haben, in dem jeweils ein Hitlerjunge wochentags seinen Dienst schob, während seine Kameraden tagsüber in Schulen und an ihren Arbeitsstellen beschäftigt waren. Und direkt hinter dem Gebäude soll den Heimbewohnern ein großflächiger Sportplatz zur Verfügung gestanden sein. Sind wir hier etwa auf der falschen Spur gelandet? Ganz offensichtlich – jenes Studentenhaus, in dem Hugo Fritsch als kleiner Bub seinen Dienst in der Hitler-Jugend versehen hat, trägt den ursprünglichen Namen „Moravenhaus“ und schreibt ein Stück Geschichte deutsch-tschechischen Zusammenlebens in der mährischen Landeshauptstadt. Dessen ungeachtet weckten Herrn Fritschs Erinnerungen auch so mein Interesse, indem es für mich äußerst spannend war, Näheres über seinen Jugenddienst in der HJ erfahren zu können.

Moravenhaus

Brünn war Sitz der "k.k. Technischen Hochschule". Gegründet 1849, auf Geheiß des Kaiser Franz Josef I,. war sie später Sitz der dortigen Korporationen. Als Insel deutscher Kultur und Sprache entwickelte sich das studentische Leben hier wie überall sonst in Altösterreich und dem Deutschen Reich. Am 29. Oktober 1859, dem 100. Geburtsjahr Schillers, wurde die Gründung der studentischen Verbindung "Moravia" mit den Farben rot-weiß-rot, den Farben der Stadt Brünn, ins Leben gerufen. Am 31.10.1898 wurde die "Franko-Moravia" nach Austritt ihrer jüdischen Mitglieder zur "Burschenschaft Moravia“. Das studentische Leben Brünns stand bis 1914 mit drei Burschenschaften am Ort in seiner vollen Blüte. Am 19.01.1902 gründete man die "Wohnungsgenossenschaft Moravia" und legte schließlich am 1. März des Jahres den Grundstein für das Moravenhaus (Anschrift war die Scheffelgasse 11, später Talgasse 83 genannt.). Erwähnenswert ist, daß das Erdgeschoß des Moravenhauses eine deutsche Gastwirtschaft beherbergte, die nicht nur den Aktiven der "Moravia" zur Stärkung diente. Vor dem bestehenden Nationalitätenkonflikt hatte dies auch einen praktisch-politischen Hintergrund. Den Tschechen war die Möglichkeit genommen einen tschechischen Wirt im deutschen Viertel Fuß fassen zu lassen.

Als sich 1907 die Burschenschaft der Ostmark formierte, traten die Brünner Burschenschaften sofort bei. Gedanklich war diese Gruppe von einer Anlehnung an das deutsche Reich bestimmt, nicht an Altösterreich. Die Idee des Nationalstaates dominierte die politische Idee der Burschenschaft zu dieser Zeit wie nie zuvor. Im Denken war die Brünner Burschenschaft vor 1914 staatsfremd, ohne es zu revolutionären Taten kommen zu lassen, und sie marschierte daher auch 1914 getreulich in den letzten Feldzug Altösterreichs vielfach in dem Glauben, daß es notwendig sei, weil man „mit und für Deutschland kämpfe". Im Wintersemester 1914/15 wurde der Aktivenbetrieb eingestellt. Am Weltkrieg nahmen 78 Moraven teil, 13 blieben auf dem Schlachtfeld. 1919 eröffnete "Moravia" erneut den Aktivenbetrieb. Während der ersten tschechoslowakischen Republik hat „Moravenhaus“ als Gastwirtschaft seinen guten Ruf und seine Beliebtheit nicht nur unter den Studenten erhalten und weiter ausbauen können. Zwei Jahre nach Hitlers Machtergreifung wurde die Burschenschaft im Deutschen Reich aufgelöst und demzufolge kam es auch in Mähren zur Reorganisierung bestehender studentischer Verbindungen. Während des Krieges hat das Gebäude den Sitz eines anderen Vereines beherbergt, es bestand diesbezüglich jedoch keine Gemeinsamkeit mit dem eigentlichen Vorgänger, der „Moravia“.

Ich lege Herrn Fritsch ein Foto jenes Hauses in der Talgasse vor. Heute ist auf den ersten Blick ersichtlich, daß die Zeiten der kulinarischen Vergangenheit der beliebten Gastwirtschaft längst gezählt sind – das Objekt wurde inzwischen zu einem Wohnhaus mit attraktiven Wohnungen umfunktioniert. „Das Foto beweist es, das ist das Haus in dem die HJ 1944 und Anfang 1945 ihre vormilitärische Ausbildung gemacht hat. Den Jugendstil des Hauses habe ich damals schon bewundert. Die Gastwirtschaft ist mir noch in Erinnerung, da die Theke für die Zielscheiben hergerichtet war und aus den Bänken und Stühlen ein Schießstand aufgebaut war“, erkennt Herr Fritsch das ehemalige Moravenhaus ohne jegliches Zögern auf Anhieb, „was oben war weiß ich nicht, die Gastwirtschaft wurde als Zusammenkunft von HJ aber auch von den kleinen Pimpfen genützt, auch ich war dort. Das Lokal wurde teilweise auch als Schießübungsplatz - im Sommer auch der Garten – genutzt."

FORTSETZUNG FOLGT