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pátek 24. prosince 2010

Das Wiedersehen

Aus den Erinnerungen von Mathilde Najdek
Alteingesessene tschechische Prager Unternehmer lieβen in deutschsprachigen
Zeitungen und Zeitschriften Prags eigene Inserate schalten.
(Bild: Anzeigenteil der "Prager Wochenschau", 1940)
Sie saß ganz hinten, wollte noch nicht dazu gehören und hatte deshalb diesen Platz gewählt. Ich betrat die Klasse und merkte natürlich sofort, daß dort in der letzten Bankreihe ganz abseits von den anderen Kursteilnehmern jemand Platz genommen hat, der mir offensichtlich auf diese Art so schnell wie möglich seine noch nicht bestätigte Zugehörigkeit andeuten wollte. Mein Blick fiel selbstverständlich auf sie, und sie lächelte verlegen. Sie war ungefähr in meinem Alter, trug eine kurze Pelzjacke und hatte einen sportlichen Kurzhaarschnitt und sehr harte Gesichtszüge, ein Gesicht in dem die Falten tiefe Furchen hinterlassen haben. Ihr Äußeres hat sie nur mit einem Lippenstift aufgebessert.

„Sie sind neu“, sagte ich und dachte: das Gesicht kenne ich, aber woher? „Ja“, kam die Antwort. „Ich habe vor vielen Jahren Deutsch gelernt und möchte meine Kenntnisse etwas auffrischen. Wenn Sie gestatten, würde ich eine Stunde hier hinten sitzen, um herauszubekommen, ob ich in diesem Konversationskurs richtig bin. Falls die Kenntnisse für mich zu hoch wären, würde ich wieder gehen. Wenn Sie es erlauben, würde ich ganz gern nur mal zuhören.“
Woher kenne ich sie, wo habe ich diese Frau schon gesehen, ging es mir durch den Kopf und ich antwortete ihr: „Aber natürlich, ich habe nichts dagegen“.

Ich ertappte mich während meines Unterrichts, daß ich immer wieder zu ihr hinsehen mußte und mir im Laufe dieser Stunde klar darüber wurde, daß ich diese Frau ganz bestimmt von irgendwoher kenne.
Da ich als Deutschlehrerin schon viele Kurse in Prag hatte, passiert es mir sehr häufig, daß ich auf Menschen stoße, die ich irgendwann mal unterrichtet habe, sei es denn in irgendeinem Kursus der Sprachschule oder in der Lehrerweiterbildung oder schließlich auch in irgendeinem Ferienkurs des Pädagogischen Kreiskabinetts, wo ich Weiterbildungskurse leite.

In der Pause ging ich zu ihr, sie stand auf und ich konnte sie mir etwas genauer ansehen. Sie war schlank, aber nicht dürr. Man sah ihr an, daß sie Sport trieb.
„Kennen wir uns, von einem Weiterbildungskurs?“, „Nein, bestimmt nicht.“ „Oder waren Sie schon mal Hörerin der Sprachschule? Es könnte ja auch sein, daß wir uns auf dem Gang während der Pause mal gesehen haben,“ - „nein, sicher nicht, denn ich habe die Sprachschule nie besucht.“ Wir sprachen die ganze Zeit deutsch, sie suchte zwar an einigen Stellen nach Ausdrücken, aber grammatische Fehler machte sie kaum. Man konnte es ihr ansehen, daß ihr das Deutschsprechen etwas schwer fiel, aber immerhin war es fast fehlerfrei.

„Sie sprechen recht gut deutsch. Wo haben Sie Deutsch gelernt? In der Schule?“ Sie nickte. „Aber das ist schon sehr lange her.“ Das ist eine Antwort, die ich sehr häufig bekomme, besonders dann, wenn es sich um ältere Leute handelt. Die Pause war zu Ende und der Unterricht ging weiter. Immer wieder schaute ich zu ihr hin, denn es ließ mir keine Ruhe: woher kannte ich sie nur?

Nach der Stunde packte ich meine Tasche zusammen, denn es war meine letzte Stunde an diesem Abend. Die Hörer verließen sich unterhaltend den Klassenraum. Ich hatte als letzte Lehrkraft die Aufgabe, die Fenster zu schließen, die Tafel für den nächsten Morgen in Ordnung zu bringen und darauf zu achten, daß die Stühle alle auf die Bänke geklappt waren, da am Morgen die Reinigungskräfte vor dem Unterricht die Klasse noch sauber machten, und wir in diesem Grundschulgebäude eigentlich nur „Gäste“ waren. Sie wartete auf mich, bis ich zur Tür ging und schloß sich mir dann an.
„Na, wie sieht es mit Ihren Kenntnissen aus? Konnten Sie dem Unterricht folgen?“ Man sah ihr die Freude an, daß sie für sich die Entscheidung getroffen hatte, sich in der Sprachschule, einer Art Volkshochschule für Sprachen, anmelden zu wollen.
Am Ende einer der nächsten Unterrichtsstunden kam sie zu mir und fragte mich: “Sind Sie in der Charvatgasse in die Schule gegangen?“ Mich traf es wie ein Blitz. „Ja, aber das ist schon sehr viele Jahre her. Das war während des Krieges. Dort befand sich das deutsche Mädchen-Gymnasium“. „Ja, das meine ich ja auch“, erwiderte sie.
Ich holte tief Luft und sah sie an: „Dann sind wir ja vielleicht sogar Schulfreundinnen“. „Das sind wir“.
„Wo hast Du gesessen?“ Sie erzählte aus jener Zeit, und ich versuchte, sie mir vorzustellen.
Ich erinnerte mich, daß ich in der Zeit, als ich nach dem Krieg noch in der Ex-DDR lebte, in einer tschechischen Sportzeitung auf dem Titelblatt eine ehemalige Schulfreundin in Großaufnahme gesehen hatte. Sie war Leichtathletin und hatte den Titel einer Landesmeisterin errungen, deshalb wollte ich mehr davon wissen. „Kannst Du dich an Olga M. erinnern? Hat sie nicht eine große Sportkarriere gemacht?“, und ich erfuhr, daß sie tatsächlich sehr bekannt geworden sei. „Sie ist verheiratet und ist nach Brünn gezogen, ich habe sie oft im Rundfunk gehört, wenn sie nach ihren Erfolgen gefragt worden ist, ich werde versuchen, einen Kontakt zu ihr herzustellen“. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Das alles war geschehen, als ich nach Ostdeutschland vertrieben Trümmerfrau, Hilfsarbeiterin, Betonmischerin, landwirtschaftliche Arbeiterin, Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin sein mußte.

Eines Tages brachte mir Alexandra, so hieß meine ehemalige Mitschülerin, ein Klassenfoto mit, und wir verloren uns in der Vergangenheit. Ein Thema sperrten wir beide bei unseren Ausflügen in eine längst vergangene Zeit allerdings immer aus, nämlich das letzte Kapitel, das unsere gemeinsame Schulzeit jäh beendete.

Sie wohnte jetzt auf dem Smichow in einer kleinen Einzimmerwohnung mit Küche. Die Wohnung hatte kein Zubehör. Vom Flur, auf dem sich für die gesamte Etage eine Toilette befand, kam man gleich in die Küche. Diese Wohnung bewohnten sie, ihr Mann und ihr mittlerweile erwachsener Sohn.
Es folgten gegenseitige Besuche und wir lernten unsere Familien kennen. Alexandra und ihr Mann arbeiteten auf dem Flughafen als Meteorologen. Sogar die künftige Schwiegertochter lernte ich kennen.
Alexandras Mann war sehr geschickt und hatte aus der Küche eine schöne geräumige Wohnküche gebaut, in der sich der Sohn eingerichtet hatte. Im Zimmer, hatte er eine Art Empore mit zwei Betten und verschiedenem Stauraum gebastelt, auf der Alexandra und er schliefen.

Der Stadtteil Smichow war im neunzehnten Jahrhundert entstanden und schon immer ein ausgesprochenes Arbeiterviertel, wo es viele Industriebetriebe gab. In der unmittelbaren Nachkriegszeit habe ich es natürlich nicht erlebt, aber in den sechziger Jahren war es schon sehr verwahrlost und von vielen Romas bewohnt.
Die Gleichschalterei der Kommunisten brachte es mit sich, daß viele Leute in Stadtvierteln wohnten, wo sie gar nicht hinpaßten, also kam mir überhaupt nicht die Idee zu fragen, wieso sie in einem so schmutzigen Wohnviertel wohnten.
Die Wohnungsnot war in der Tschechoslowakei immer sehr groß, obwohl in Prag während des Krieges nicht viel beschädigt worden ist. Man kam mit dem Wohnungsbau nie so richtig voran. Obwohl über drei Millionen Deutsche aus dem Land vertrieben wurden, gab es keine Wohnungen. Auf den Parteitagen hat man sich von einem zum anderen Mal immer wieder ergebnislos das Ziel gestellt, den bestehenden Wohnungsmangel endlich zu lösen. So waren die Menschen mit der Zeit sehr bescheiden geworden und nahmen jedes Angebot an, auch wenn die Wohnung nicht schön gelegen war.

Das Schuljahr verging, und wir hatten auch weiterhin noch telefonische Verbindung und trafen uns von Zeit zu Zeit in einem kleinen Kaffeehaus, um den neuesten Klatsch und die letzten Ereignisse in unseren beiden Familien auszutauschen. Es gab mitunter aber auch längere Strecken, wo wir weder telefonisch noch direkt miteinander sprachen, weil uns der Beruf, der Haushalt und unsere Kinder zu sehr in Anspruch nahmen. Wichtig war uns nur, daß wir uns nicht mehr ganz aus den Augen verloren.

Eines Tages, als wir wieder mal nicht so viel Zeit für einander hatten und wenig voneinander hörten, rief sie mich ganz fassungslos an und berichtete mir unter Schluchzen, daß ihr Wenzel, ihr Mann, ganz plötzlich völlig unerwartet gestorben sei. „Ich habe mein Leben lang daran geglaubt, daß er der stärkere von uns beiden ist. Er hat mich doch in meiner schlimmsten Zeit genommen, hat mich beschützt, hat zu mir gestanden, und jetzt läßt er mich allein zurück. Ihm ging es nicht gut, er hatte eine Grippe, der Arzt sagte es jedenfalls am Telefon“, ich unterbrach sie: „Ja war denn der Wenzel gar nicht beim Arzt?“ Sie weinte und jammerte in die Telefonmuschel hinein: „Der Wenzel war doch nie im Leben krank, es war ja wirklich das naheliegendste zu glauben, daß er eine Erkältung hat, er war müde, hatte Gliederschmerzen.“ Ich versuchte weiter zu bohren: „War der Wenzel beim Arzt oder nicht?“ Sie klagte laut schluchzend: “Sie waren doch gute Freunde, der Arzt kannte den Wenzel gut“.
So war Wenzel vierzehn Tage nach einem nicht behandelten Infarkt gestorben.

Die Zeit wollte die aufgerissene Wunde in ihr nicht heilen. Sie gab sich letzten Endes die Schuld, daß sie den Wenzel nicht gedrängt hatte, zum Arzt zu gehen. Sie schleppte sich durch die Gegend, brauchte den längst fälligen Krankenhausaufenthalt wegen ihrer kranken Wirbelsäule dringend, versteigerte sich in ihr Leid immer tiefer und ging schließlich mit Wenzels Urne schlafen. Sie stellte sie auf den Nachttisch und führte mit ihm Gespräche. Nachts flog seine Seele im Schlafzimmer umher, und sie wußte, daß er bei ihr war und auf sie hernieder sah.

Mit der Friedhofsverwaltung bekam sie Ärger, weil es den Hinterbliebenen untersagt war, die Urne an sich zu nehmen. Sie erboste sich und verteidigte die Urne als ihr Eigentum, um das man sie berauben wollte.
Eines Tages rief mich ihre Nachbarin an, daß man sie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert habe.
Was war mit Alexandra nur passiert? Sie fühlte sich schuldig, schuldig am Tod ihres Mannes.
Ich besuchte sie in der Kateřinská, in der Katharinengasse, dort befindet sich eines der bekanntesten Irrenhäuser in Prag. Der Eingang liegt gegenüber dem wunderschönen Barockschlösschen Amerika, wo heute Kammerkonzerte stattfinden. Man betritt das Objekt der Irrenanstalt durch einen alten Bau mit einem Holztor und kommt durch einen Durchgang in einen kleinen Park, von wo man gerade auf das Haus zugeht. Der Blick auf das Haus ist beengend, denn alle Fenster sind vergittert. Sie war im ersten Stock untergebracht. Die Abteilung war vom Treppenhaus durch ein Gitter abgesperrt. Ich läutete. Nach einer geraumen Zeit näherten sich Schritte, und eine freundliche Krankenschwester öffnete die Tür mit einem Schlüssel. Nachdem mich die Frau nach meinem Begehren gefragt hatte, bat sie mich, draußen Platz zu nehmen, wo eine unbequeme Holzbank stand. Sie verschloß die Tür wiederum mit einem Schlüssel von innen und entfernte sich auf leisen Sohlen. Schließlich öffnete sich die Tür erneut und Alexandra erschien. Die Tür wurde zugesperrt, und wir blieben allein mit der unbequemen Holzbank.

Ich fand keinen Anfang, denn eine so irrsinnige Frage wie „Wie geht es Dir?“ wollte ich ihr nicht stellen. Wie konnte es ihr schon gehen, man sah es. Sie sah blaß und eingefallen aus und kam mir wie ein verlorenes Küken vor, wehrlos und einsam. Nur schleppend kamen wir ins Gespräch, ich spürte genau, daß es nicht nur der Verlust von Wenzel war, es mußte noch mehr sein. „Michal“ Alexandras Sohn, „läßt sich von Blanka scheiden, und sie erwartet von ihm ein Kind. Er ist nach Kladno gezogen zu seiner neuen Flamme“. Das war es also, aber es sollte noch schlimmer kommen. “Die Neue kann mich offensichtlich nicht leiden, und Michal hat jeglichen Kontakt mit mir abgebrochen. Ich kann Blanka doch nicht auf der Straße stehen lassen, das arme Mädchen ist jetzt ganz verzagt. Ich muß ihr doch helfen, bis sie ein neues Zuhause gefunden hat.“

Sehr langsam erholte sie sich von diesen Schicksalsschlägen. Sie blieb jedoch eine gebrochene Frau und bekam schließlich eine Invalidenrente. Es folgten Operationen, und immer neue Krankheiten brachen aus, als ob sie sich aufgegeben hätte.
Eines Tages rief sie mich an und teilte mir mit, daß sie nun in einem Heim für langzeitlich Erkrankte wäre. Am nächsten Wochenende besuchte ich sie. Als ich kam, war Blanka mit der kleinen Enkelin bei ihr. Sie hatten ihr ein bißchen Obst gebracht. Wir machten ein Foto von Alexandra.
Als wir allein zurückblieben, erzählte sie mir, daß sie nun schreiben würde. Auf meine Frage, was sie schreiben würde, bekam ich eine ausweichende Antwort.

Mit der Zeit besserte sich ihr Zustand, und sie wurde nach Hause entlassen. Die Zigeuner hatten in der Zwischenzeit ihre Wohnung ausgeraubt.
Wir trafen uns in einem Cafe, sie sah elend und verzweifelt aus. „Alexandra, warum suchst Du Dir eigentlich keine andere Wohnung? Ich wollte Dich schon lange danach fragen. In dieser Gegend kannst Du nichts anderes erwarten. Du brauchst eine frohere Umgebung, Bäume, wo Vögel nisten und singen. Wo Du wohnst, rauschen von früh bis spät Autos unter deinen Fenstern vorbei“. Mit wehklagender Stimme stotterte sie weiter: “In dieser Wohnung habe ich von Anfang an mit Wenzel gewohnt, Michal ist hier geboren. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Meine Mutter ist früh gestorben und wir haben dann nach l945 allein mit meinem Vater gewohnt, der dann auch bald verstorben ist. Dann gab es nur noch Wenzel.“
„Wer war in Euerer Familie eigentlich der Deutsche, Deine Mutter oder Dein Vater?“ Die Frage war mir so herausgerutscht, denn sie sprach mittlerweile wieder so gut Deutsch, daß auf alle Fälle ein Deutscher in der Familie gewesen sein mußte. „Meine Mutter, deshalb mußten wir ja auch aus unserem Haus raus. Wir besaßen damals in eine Villa am Stadtrand. Gott sei Dank hat das meine Mutter nicht mehr erlebt, ja, ja. Mein Vater war Ingenieur und hat seine Arbeit verloren und ist dann vor Leid sehr bald meiner Mutter nachgefolgt. Wenzel hat mich beschützt, er war der einzige, der zu mir gehalten hat. Wir haben sehr jung geheiratet, sonst hätten wir diese kleine Wohnung auf der Ausfallstraße nach Pilsen nicht bekommen.“

Es vergingen Wochen, bevor ich dann von ihr erfuhr, daß sie wieder ins Krankenhaus mußte. Ihre Wirbelsäule machte ihr das ganze Leben lang schon zu schaffen. „Hast Du dir Deine Probleme im Sport geholt?“ „Nein, weißt Du, l945 hat man mich auf der Straße mit einer Eisenstange geschlagen, und seither habe ich diese Probleme mit der Wirbelsäule. Ich habe jedes Jahr einen Monat lang im Krankenhaus in einem Gipsbett liegen müssen“.
Beim nächsten Wiedersehen ging sie an Krücken. „Jetzt kämpfe ich.“ Was meinte sie mit dem Kämpfen? „Gegen wen?“. „Gegen meinen Körper. Als ich in der Reha im Rollstuhl saß, begriff ich, daß ich etwas für meine Gesundheit machen muß. Früher fuhren wir mit Wenzel mit den Rädern aus der Stadt, oder wir machten Touren. Im Winter fuhren wir ins Riesengebirge zum Skilaufen. Jetzt beiße ich die Zähne zusammen, Du siehst ich gehe schon wieder an Krücken, vor einigen Wochen saß ich noch im Rollstuhl. Wenn es mir noch besser geht, suche ich mir eine Teilzeitarbeit. Im Rudolfinum ist eine Ausstellung, dort brauchen sie in jedem Saal einen Aufpasser, und das könnte ich dann machen. Eine Nachbarin hat mir davon erzählt“.

Ich sah sie nie mehr. Sie hatte ihren zu spät aufgenommenen Kampf gegen ihr Schicksal verspielt.