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středa 5. května 2010

Der Abschied

Mathilde Najdek
česky: Rozloučení
Es war in den Tagen des Jahres 1945, als man in Prag aus der Passivität in die Siegerrolle schlüpfte.
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Von den Vermittlern zwischen Siegern und Verlierern des zweiten Weltkrieges wurden bereits die Dokumente zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands ausgehandelt. Zur gleichen Zeit zog General Schörner mit starken Truppeneinheiten über das Gebiet Böhmens, weil sie sich den Amerikanern ergeben wollten, die sich mit ihren Truppen bereits in Böhmen befanden und auch bereit waren, nach Prag vorzustoßen.

.Nach der Vorstellung Stalins und Beneš’s sollte Prag jedoch von den Russen eingenommen werden, die aber ihrerseits durch erbitterte Kämpfe in Berlin aufgehalten worden sind. Da die Kommunisten hierzulande natürlich über Stalins und Beneš´s Vorhaben informiert waren, griff man ein und ließ den amerikanischen General Patton zurückpfeifen. Er selbst äußerte sich später einmal darüber, daß er die Befolgung dieses Befehls, Prag nicht einzunehmen, als einen der größten Fehler in seinem Leben betrachtet.
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Unter Führung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei brach am 5. Mai 1945 Mittag die sogenannte Revolution, bekannter aber unter der Bezeichnung „Prager Aufstand“ aus.
Gegenüberstanden sich auf der einen Seite bei diesen verspäteten und militärisch völlig überflüssigen Aktivitäten die Truppen General Schörners, die nicht kämpfen, sondern sich ganz einfach in Richtung Westen durchschlagen wollten. Dann wohl auch noch in Prag stationierte SS-Einheiten und auf der anderen Seite eine mit Pflastersteinen und einfachen Gewehren ausgerüstete, militärisch unausgebildete, unerfahrene, unorganisierte, von den Kommunisten angefeuerte Zivilbevölkerung, die sich verständlicherweise von den nazistischen Eindringlingen befreien wollte.
.Das Resultat dieser Tragödie, die man noch heute als wesentlichen und festen Bestandteil und Beitrag des Widerstandes der tschechischen Bevölkerung gegen die nazistische Okkupation betrachtet, waren auf der Seite der Tschechen 7000 Tote, die im Endeffekt natürlich auf das Konto der Nazis gingen. Junge, sicher sehr mutige und heldenhafte Menschen im besten Mannesalter, vollkommen sinnlos hingeschlachtet, da der zweite Weltkrieg am 5. Mai 1945 Gott sei Dank für Europa de facto schon zu Ende war. Jedes Menschenleben überflüssigerweise auf den Altar des Vaterlandes gelegt, scheint mir ein Verbrechen zu sein, egal auf welcher Seite, auf der, der Verlierer oder der Gewinner. Und wenn man bedenkt, daß es in diesem Falle einen politischen Hintergrund für dieses gewollt herbeigeführte Drama gab, nämlich der bewaffnete Aufstand der Bevölkerung gegen die Nazis als Bedingung, um zu den Siegern des zweiten Weltkriegs zu gehören, so ist dies umso verwerflicher.
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Am 8. Mai haben sich die kommunistischen Unterhändler mit den Truppen Schörners verständigt und ließen ihn und seine Truppen davonziehen. General Patton wartete. Am 9. Mai haben die „Befreier“ die Hauptstadt erreicht und rollten mit den ersten Panzern unter einem unglaublichen Jubel der Bevölkerung in Prag ein. Der erste Panzer bekam später in Prag einen Ehrenplatz. Die ehemalige Tschechoslowakei, die es genau genommen Anfang Mai 1945 nicht einmal gab, da sich die Slowaken 1939 von Böhmen lostrennten und ihre eigene Republik gründeten und gemeinsam an der Seite der Nazis fast gegen die ganze Welt kämpften, feierte jahrzehntelang als einziges Land in Europa und Übersee den 9. Mai als Tag der Befreiung und das Kriegsende.
.Mit der Zeit sickerte zwar durch, daß der erste Panzer gar nicht der erste war, sondern irgendeiner, und daß die Befreier rumänische Einheiten sowie vor den Russen in Richtung Westen fliehende Vlasovtruppen waren. Beneš flickte das Land wieder zusammen und den Slowaken ward als „slawisches“ Element vergeben, denn wie hätte man ohne die Bevölkerungszahl der Slowaken dreieinhalb Millionen Deutsche des Landes verweisen können, das wäre ja fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung gewesen.
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Es verwundert wohl kaum jemanden, daß zu dieser Zeit ein unvorstellbares Chaos herrschte. Jeder konnte richten, je nachdem zu welcher Nationalität er gehörte. Leider Gottes gab es auch einige Helden, die sich besonders stark fühlten, wenn sie einem deutschen Zivilisten gegenüberstanden. Diese Helden erkannte man daran, daß sie auf ihrer Kleidung ein „RG“ - revolutionäre Garde - und Peitschen bei sich trugen. Die Deutschen wurden durch ihre weißen Armbinden, die sie tragen mußten, zu an den Pranger gestelltem Freiwild.
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Nach ersten bösen Erfahrungen wußte man als Deutscher, daß man klugerweise zu Hause bleibt. Wir hatten zum Glück sehr anständige Nachbarn. Aber wehe, wenn es irgendwo ganz persönliche Mißverständnisse gab zwischen Tschechen und Deutschen !
.In diesen Tagen der Wirren tauchte Großmutter bei uns in Prag auf. Sie wollte uns möglichst bald mitnehmen, denn sie glaubte, „ihr müßt raus aus dieser Stadt, die Hysterie steigt ständig. Was soll werden, wenn du durch diese Aufregungen eine Frühgeburt bekommst“, sagte sie zu meiner Mutter hingewendet. Wir besorgten nur noch das Allerwichtigste, versorgten die Blumen und packten ein, was in eine Stadttasche und in Mutters Entbindungsköfferchen paßte und warteten einen günstigen Tag ab, an dem wir es wagen konnten, in den späten Nachmittagsstunden aus Prag zu fliehen. Zuerst nahmen wir, Mutter und ich, unsere weißen Armbinden ab, steckten sie in die Tasche und verließen das Haus möglichst unauffällig. Auf der Straße waren einzelne Schießereien zu hören, die uns zu einem schnelleren Schritt gemahnten, denn was wir unternahmen, war ein großes Risiko. Wir fuhren ganz absichtlich von einem am Stadtrand gelegenen Bahnhof ins deutsche Grenzgebiet, wo meine Großeltern wohnten. Dort hatte die Panik inzwischen auch um sich gegriffen. Rathaus und Polizei waren in den Händen von aus dem Inland gekommenen Kommunisten, die sich sehr rasch zu Nationalausschüssen formierten, was der erste Schritt zur Verwirklichung des vor Ende des Krieges im bereits befreiten Kaschau - Košice - vom Vorsitzenden der tschechischen Kommunisten Gottwald und Beneš im Regierungsprogramm festgelegt worden war. Somit haben die Kommunisten nicht erst 1948 die Macht im Lande übernommen, sondern bereits 1945. 1948 wurde nur der formale Schritt vollzogen, nämlich die Übernahme der Macht legalisiert.
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Um Lebensmittelkarten zu bekommen, mußten wir uns bei unseren Großeltern anmelden. Meine hochschwangere Mutter wurde von der Zwangsarbeit befreit. Ich wurde einem Kinderkommando zugeteilt, wo Kinder im Alter von sechs bis fünfzehn Jahren von morgens bis abends auf Feldern arbeiten mußten, ohne Honorierung versteht sich. Wir bekamen einen Zettel, auf dem bestätigt wurde, wie man heißt, als was und wo man arbeitet. Darunter war ein Stempel und eine unleserliche Unterschrift.
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Vom Stellpunkt eskortierten uns bewaffnete Soldaten aufs Feld, wo wir in glühender Hitze von ihnen zur Arbeit angetrieben wurden. Einer war unter ihnen, der sich uns gegenüber menschlich zeigte. Er erlaubte uns, daß wir uns manchmal im Schatten ein bißchen ausruhen konnten. Er unterhielt sich auch mit uns, und da wir im deutschen Grenzgebiet waren, sprachen nicht alle Kinder tschechisch. Mir war die Aufgabe des Dolmetschers zugefallen. Worauf er mich direkt ansprach, woher ich so gut Tschechisch könne. Ein Wort gab das andere und so erzählte ich ihm, daß ich Pragerin bin. Wir stellten dann im Gespräch fest, daß meine Tante Tilde die Lehrerin seiner Kinder gewesen ist. Somit waren wir alte Bekannte. Da er nun so ein bißchen aus der Anonymität herausgetreten war und in der Rolle eines Vaters vor uns stand, verhielt er sich zu uns wie zu Kindern, die wir ja auch waren und absolut nichts auf dem Kerbholz hatten als unsere deutsche Nationalität.
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Er beobachtete, daß ich öfters hinter einem Strauch verschwinden mußte und fragte mich nach meinen Beschwerden. Sofort eskortierte er mich zum Arzt, den RG-Aufseher und einen zweiten Soldaten bei den übrigen Kindern zurücklassend. Der Arzt stellte die Ruhr fest, machte aber mich und meinen Begleiter gleich darauf aufmerksam, daß er den Befehl hätte, Deutsche nicht zu behandeln. Als wir aufs Feld zurückkamen, erlaubte er mir, mich öfters ein Weilchen in den Schatten zu legen. Der revolutionäre Gardist fauchte den menschlichen Soldaten an, „mir ist schon aufgefallen, daß Sie sich um die deutschen Kinder mehr kümmern, als nötig und als es Ihre Pflicht zuläßt“.
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Am nächsten Tag kam der freundliche Soldat nicht mehr. Er war für immer aus meinem Leben verschwunden.
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Eines Morgens, ich hatte den Überblick über die Zeit gänzlich verloren, kam ich zum Stellplatz, von wo wir sonst auf die Felder eskortiert wurden. Einer der Soldaten sagte höhnisch „heute braucht ihr nicht zu arbeiten“. Keines der Kinder reagierte, wie normale Kinder ihre Freude über eine solche frohe Botschaft zum Ausdruck gebracht hätten, nämlich mit einem Freudenschrei. Nichts. Es herrschte Totenstille, die Gesichter der Kinder blieben versteinert. Eine Gruppe von zu früh alt gewordenen Menschen, die auch kaum untereinander sprachen. Und so lief ein jedes schnell wieder nach Hause.
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Man spürte, daß etwas in der Luft lag. Überall standen mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten herum. Als ich am Haus meiner Großeltern ankam, standen vor der Haustür bereits einige Soldaten und hieben mit ihren Gewehrkolben an die Haustür. „Deutsche raus, raus, los, los.“
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Ich wurde nicht mehr ins Haus gelassen und verstand nicht, was vor sich ging. Ich sah nur, daß sich vor anderen Haustüren das gleiche abspielte. Meine Mutter kam mit ihrem Köfferchen aus dem Haus. Großmutter kam hinterher, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schimpfte tschechisch wie ein Rohrspatz. Mein Großvater erschien auch auf der Bildfläche. Er nahm seine lange Pfeife aus dem Mund, steckte sie wieder in den Mund, was sich laufend wiederholte. Mit der rechten Hand fuhr er sich über den kurzgeschorenen schon ergrauten Kopf, den er ständig schüttelte. Meine Großeltern waren Tschechen und konnten somit in ihrem Haus bleiben.
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Es war keine Zeit für langes Abschiednehmen. Man wußte übrigens auch nicht, was im nächsten Moment passieren würde. Niemand hatte eine Ahnung, was man mit uns vorhatte. Keine 50, keine 30, keine 25 Kilo Gepäck durften wir mitnehmen, ganz einfach nichts. Mutters Köfferchen war Gott sei Dank gepackt und so griff sie nach ihm und nach der Handtasche, in der sie die wichtigsten Dinge hatte. Zum Packen ließ man uns keine Zeit - außerdem, wer und wo hätte man das Gepäck wiegen sollen?
.Die Menschen, Frauen, Kinder, Greise und Greisinnen, wurden zu einem Zug zusammengestellt. Mutter faßte mich an der Hand und zog mich hinter sich her, denn ich lief mit nach hinten gedrehtem Kopf, um Großmutter und Großvater so lange wie möglich zu sehen. Man führte uns an den Stadtrand, wo sich ein Barackenlager befand, in dem vorher Fremdarbeiter vielleicht auch Kriegsgefangene untergebracht waren, der Stacheldraht wies darauf hin. Ich erstarrte, als ich vor dem Eingang des Tores zwei revolutionäre Gardisten mit Peitschen sah, denn mit der Peitsche hatte ich schon vorher Bekanntschaft gemacht. Vor dem Zaun am Eingang standen fünf Tische. Jeder mit einer Aufschrift versehen. Tisch eins: Schlüssel mit genauer und leserlicher Adresse, Tisch zwei: Kennkarte, Tisch drei: Schmuck, Tisch vier: Bargeld, Tisch fünf: Sparkassenbücher und Wertpapiere.
.Meine Mutter gab alles, was sie hatte, ab und dann ging es zu dem schmalen Eingang. „Zeig deine Hände“, sagte einer der beiden RG-Männer. Da ich nicht wissen konnte, was der Mann von mir wollte, streckte ich ihm die Hände mit dem Handrücken entgegen, „umdrehen“ vernahm ich ihn. „Du bist kein Arbeiterkind, du hast ja keine Schwielen“ und dann gab es einen Peitschenhieb zum Zeichen, daß ich weitergehen sollte. Ich verstand natürlich absolut nichts davon. Daß ein Arbeiterkind eventuell mit Schwielen zur Welt kommt, habe ich bis zu dieser Lektion nicht gewußt.
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In diesem Internierungslager sah es nicht anders aus, als in den Konzentrationslagern. Der einzige Unterschied war, daß wir frisch eingeliefert wurden und noch sauber waren, aber vor allem, daß wir im Gegensatz zu den Unglücklichen, die Sträflingskleider trugen, nicht so fürchterlich abgemagert waren wie sie. Selbstverständlich fand nicht jeder eine Pritsche für sich und so lagen mehrere Menschen auf einer Pritsche zusammen, manche konnten auch nur sitzen. Die jüngeren krochen hinauf, ich wollte bei Mutter bleiben, ich spürte, daß sie mich in ihrer Nähe brauchte. Morgens wurden alle aus den Baracken geholt, die zu irgendeiner Zwangsarbeit verpflichtet worden waren. Im Lager gab es natürlich nichts zu essen und nichts zu trinken. Toiletten und Waschmöglichkeiten wären hier Luxus gewesen. Vor den Baracken standen Latrinen. Der Auslöser für viele Krankheiten schien schon zu ticken.
.Nach Tagen, das Zeitgefühl hatten wir ganz verloren, kamen tschechische Offiziere, die durch die Baracken gingen und Leute, die ihnen geeignet schienen, herausholten. Wir waren mit dabei. Offensichtlich war der Zustand meiner Mutter ausschlaggebend, denn noch Neugeborene im Lager zu haben, wäre für diese Leute ein überflüssiges Problem gewesen. Bevor der Menschenzug zusammengestellt war, standen wir stundenlang in der schon aufkommenden Hitze, bis sich die Organisatoren endlich mit allem zufrieden gaben.
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Der Menschenzug setzte sich in Bewegung, die im Lager zurückblieben, standen am Stacheldrahtzaun und schauten uns nach. In diesem Augenblick war keinesfalls klar, wer die bessere Karte gezogen hatte. War es unser Glück, von unseren Peinigern loszukommen oder nicht ? Wir bewegten uns in Richtung Bahnhof, also war klar, daß man uns irgendwohin transportieren wollte, aber wohin ? In ein anderes Lager, weil hier zu viele Menschen waren ? Am Bahnhof angekommen sahen wir weder einen Zug noch eine Lokomotive. Man ließ uns einfach wieder in der grellen Sonne stehen. Wen kümmerte es, daß in diesem Transport vor allem Alte, Kranke, viele Kleinkinder , aber auch Nonnen waren. Nach so vielen Jahren ist es für mich heute nicht mehr nachvollziehbar, ob es zwei oder drei Tage waren, die wir hier standen, nicht saßen, nicht lagen, nicht gingen, sondern standen. Wenn einer umkippte, kümmerten sich die Menschen um ihn herum, sonst zeigte niemand ein Interesse. Als sich am nächsten Tag immer noch nichts tat und weder Waggons noch eine Lokomotive in Sicht waren, und niemand eine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte, beschlossen wir mit meiner Mutter, daß ich es versuchen sollte, hinter einem Busch auf dem Bahnhofsgelände zu verschwinden, wie schon des öfteren, dort wollte ich meine weiße Armbinde abnehmen, was wir ja auch schon mal riskiert hatten, und sollte zu meinen Großeltern laufen, damit sie uns nicht im Lager suchten, sie sollten wissen, daß wir auf dem Bahnhof sind.
.Es ist mir gelungen, an allen Sperren und Patrouillen vorbeizukommen, vielleicht war ich auch so sicher, weil ich perfekt tschechisch sprach. Trotzdem kam ich völlig atemlos und erschöpft bei meinen Großeltern an. Es war um die Mittagszeit. Beide haben sofort die Situation erfaßt und konzentriert getan, was notwendig war: etwas Eßbares in ein Kopftuch zu packen und Getränke, die Großmutter zu Hause hatte, also Tee und Milch in Behälter zu füllen. Weil ich die ganze Zeit Angst hatte, daß mir Mutter davonfahren könnte, lief Großvater nachdem wir alle Vorbereitungen getroffen hatten, auf den Bahnhof, um Mutter zu beruhigen, denn diese würde ja auch Angst haben. Großmutter versuchte noch, mein Äußeres wesentlich zu verändern. Durch schwarze Bekleidung aus ihrem Schrank und Ruß aus dem Küchenofen war ich zur Großmutter geworden. Wir machten uns mit je einem Bündel und einer Kanne auf den Weg.
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Wir hatten es richtig eingeschätzt, da wir den Tschechen vollkommen egal waren, ging die Organisation dieses Transportes nur sehr langsam voran. Die Menschen standen immer noch da. Großvater hatte meine Mutter bereits gefunden, und Großmutter ging auf sie zu, während ich mich im Gebüsch verlor, um die weiße Armbinde überzustreifen.
.Als wir dann schon den zweiten, und ich glaube auch den dritten Tag so zugebracht hatten, kamen Gerüchte auf: „Sibirien“ flüsterte man sich zu. Sibirien hat mir damals noch nicht viel gesagt. Ich wußte von meinem Großvater einiges, der im ersten Weltkrieg in russischer Gefangenschaft dort war. Es wäre so kalt gewesen, daß beim Essen der Löffel an der Zunge festklebte und der Bart wiederum am Eßnapf. Ich dachte immer, daß dies eine Art Kriegsgefangenenlatein war und hatte diese Geschichten nie so recht geglaubt. Aber jetzt fiel es mir ein und beunruhigte mich sehr.
.Dann kam die Befreiung in Form von offenen Kohlenwaggons. Wir hatten so lange gewartet, jetzt ging es den Wachmannschaften nicht schnell genug. Es gab kein diszipliniertes einsteigen, sondern ein scheinbar absichtlich herbeigeführtes Durcheinander und es hieß: schnell, schnell, los los. Die Peitschen knallten wieder und in diesem Wirrwarr verlor ich einen Schuh. Menschen, die hinter mir standen wurden angetrieben wie ich. Ich hatte keine Chance, meinen Schuh wiederzufinden. Mutter riet mir im Waggon angekommen, den einen Schuh wegzuwerfen. Ich jedoch hoffte, daß ich vielleicht einen zweiten finden würde. Erst in Deutschland habe ich den einen Schuh weggeworfen, als ich endlich nicht mehr glaubte, daß es Wunder geben würde.
.Die Menschen waren eingeladen, die Bahnsteige leer, die Lokomotive pfiff, und ich wußte, jetzt heißt es Abschiednehmen von Zuhause, nicht nur von Prag, denn das hatte ich ja schon verloren, jetzt war es Böhmen, daß ich so liebte wie Prag. Ohne Übertreibung kann ich sagen, daß ich mir in diesem Moment trotz meiner vierzehn Jahre dessen voll bewußt war, daß dies die schlimmsten Augenblicke meines Lebens sind, denn ich würde nie mehr in meinem Leben diese Bäume, diese Berge am Horizont sehen, nie mehr dieses Land betreten dürfen. Ich versuchte, mir das Bild genau einzuprägen. Ich sehe es auch heute noch vor mir und empfinde dabei starke Wehmut.
.Durch Einheirat lebe ich seit vielen, vielen Jahren wieder in Böhmen. Bin aber fast nie in die ehemals deutschsprachigen Randgebiete gefahren, da dies nicht mehr mein Böhmen ist. Die dort herrschende Normalität unterscheidet sich von der meiner frühen Kinderjahre zu sehr und die in mir keimende Frage WAS IST HEIMAT und WO HAT MAN SEINE HEIMAT drängt sich mir immer stärker auf, und ich kann sie nicht beantworten...
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(Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Übersetzung ins Tschechische: Jaroslav Najdek)