pátek 31. prosince 2010

Mutters Verwandtschaft

Mathilde Najdek
Veronika, die Schwester meines Großvaters mütterlicherseits, entstammte wie auch mein Großvater einem tschechischen Elternhaus aus der Umgebung von Podersam. Sie heiratete einen deutschen Bauern und war somit Deutsche. Für Bauern herrschte früher das ungeschriebene Gesetz, dass den elterlichen Hof ein Sohn erben sollte, aber Veronika gebar nur Töchter, es wurden immer mehr. Erst das dreizehnte Kind war ein Junge, der Josef.

Vier dieser Mädchen heirateten nach Prag Tschechen, und waren dadurch wieder Tschechinnen geworden. Eine davon war Julie, die im Gegensatz zu ihrer Mutter keine Kinder bekam. Ihr Mann, der Wenzel, war in Berlin geboren worden. Seine Eltern waren Tschechen, die im 19. Jahrhundert nach Deutschland ausgewandert waren. Der Vater war Drucker und fand in Deutschland eine gute Arbeit, so konnten die Kinder der Familie alle eine gute Ausbildung erhalten. Und da die Familie zu Hause tschechisch sprach, hatten die Kinder durch ihre bilinguale Erziehung im Berufsleben noch einen Vorteil. Wenzel hatte in Berlin die Handelsakademie absolviert. Als 1918 die tschechoslowakische Republik gegründet wurde, beschloss die Familie, nach Prag zurückzukehren.

Wenzel bekam eine Anstellung im Prager Messepalais, wo er sich im Lauf der Jahre hocharbeitete. Julie ging, wie viele Mädchen in jener Zeit, in Prag in die Haushaltsschule. Bei einem Spaziergang durch den Baumgarten in Prag hatte sie Wenzel kennengelernt. Da beide sowohl Deutsch als auch Tschechisch sprachen, gab es überhaupt kein Problem, sich nach der Eheschließung in Prag niederzulassen.

Schließlich mieteten sie eine zwar für Böhmen typisch kleine Wohnung, die aber bereits damals recht komfortabel war. Julie, die selbstverständlich nicht arbeiten musste, denn Wenzel war mitlerweile Abteilungsleiter, war mit ihrer Rolle zufrieden und eine hervorragende Köchin. So lebten die zwei friedlich und glücklich. Es interessierte sie keine Politik und all die Wirren der dreißiger Jahre gingen an ihnen spurlos vorbei, denn sie waren durch ihrer beider Elternhaus tolerant genug, um sich gesellschaftlich weder auf die deutsche noch auf die tschechische Seite stellen zu müssen. Und da sie keine Kinder hatten, die dann eventuell entweder als Deutsche hätten in den Krieg ziehen müssen oder als Tschechen vielleicht als Arbeiter ins Reich hätten gehen müssen, blieben sie wieder neutral.

Lediglich der eine Neffe, der seines fabelhaften Aussehens wegen bei der Burgwache diente, erhellte das Leben der beiden. Er war ein baumlanger, schlanker, bildhübscher junger Mann, der regelmäßig am Sonntag natürlich in Uniform zum Mittagessen bei Tante Julie und Onkel Wenzel vorbeikam, der aber offenbar die Missbilligung der Nachbarn in der Straße erregte.

1945 traf es sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wenzel wurde angekreidet, dass er in Berlin geboren worden ist, Julie hatte eine „deutsche Mutter“ – aber vor allem hatten sie Geld, eine schöne Wohnung, die auch sehr schön eingerichtet war, und da war auch noch der uniformierte junge Mann, der ihre Zugehörigkeit zu den Deutschen bewies. Sie wurden aus dem Haus, in dem sie wohnten, hinausgetrieben und erhielten vom Národní Výbor (Gemeindeamt) die Aufforderung, sich in Slany (Schlan), einer Arbeiterstadt in Mittelböhmen, auf dem Národní Výbor zu melden. Julie bekam in der dortigen Landwirtschaft Arbeit, und Wenzel wurde Arbeiter in der dortigen Fabrik. Sie durften nur das Nötigste mitnehmen, was auch noch einer strengen Kontrolle unterlag. Tante Julie wurde von dem Bauern, bei dem sie in Zwangsarbeit war, sehr drangsaliert, musste schwere Säcke tragen und kam am Abend immer sehr spät heim, da sie einen weiten Weg vom Bauernhof in die Kleinstadt zurückzulegen hatte. Morgens musste sie wieder bald aufstehen, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein. Onkel Wenzel arbeitete im Dreischichtsystem in der Fabrik, in die er zugeteilt war. Ihr Zimmerchen, das sie bekamen, lag auf der lauten Hauptstraße und war ohne Zubehör und im Souterrain, so dass ihr Fenster nur ein Stück über der Erde lag. Der Raum, in dem sie hausten, war feucht und kalt. Julie erkrankte sehr bald und starb am Krebs. Wenzels Herz war sehr geschwächt und er folgte ihr bald.

Was hatten diese zwei Menschen eigentlich verbrochen? Die sogenannte innere Vertreibung, die man nicht so recht kennt und von der auch niemand spricht, ereilte sie, weil Wenzel sich eine etwas bessere Wohnung leisten konnte und sie eine kinderlose Frau, beglückt durch die Zuneigung des Neffen, einen jungen Uniformierten von der Burgwache Sonntags zu Gast zum Mittagessen hatte.
Dafür mussten sie büßen! Neid und Missgunst, wie in den meisten Fällen, waren Ursache zu grausamsten Exzessen.

Übrigens habe ich auch von dem Uniformierten, der ein Cousin war, nie wieder etwas gehört.

Einige wenige Jahre zuvor hatte sich in der Familie eine andere Tragödie abgespielt. Die Tochter einer Schwester von Julie, also eine meiner Cousinen, hatte auch einen Bauern geheiratet, aber einen Deutschen. Sie hatte drei kleine Kinder. Das größte konnte gerade frei stehen. Das zweite hielt sich an ihrer Schürze fest, und das dritte Kind hielt sie auf dem Arm, als der Russlandkrieg ausbrach.

Da trug es sich zu, dass sie einen jungen 16jährigen Ukrainer zur Arbeit bekam. Ihr Mann war an der Front und der Ukrainer, der zufällig Iwan hieß, ackerte mit den Pferden die Felder und fuhr mit den Pferden in die Mühle. Sie konnte sich auf ihn verlassen und war zufrieden, dass sie einen so tüchtigen Gehilfen hatte. Iwan bekam im Haus ein kleines Zimmerchen, wo er schlief, und da er Kleidung brauchte, bekam er sie. Iwan saß selbstverständlich auch am Tisch und aß mit der Bäuerin und den Kindern, was sich im Ort herumsprach. Eines Tages als sie wieder beisammen am Tisch saßen und aßen, klopfte es und der Ortsgruppenleiter trat ein.

„Bäuerin, der Ruß gehört nicht an den Tisch, sondern in den Stall!“. Die Bäuerin aber war um eine Antwort nicht verlegen, „Schickt’s mir meinen Mann nach Hause, so aber brauche ich den Ruß, der mit den Pferden zur Mühle fährt. Und dort hat der Maurer ein Loch gelassen, schau, dass d´ raus kommst!“ wetterte sie dem Ortsgruppenleiter entgegen – der dann im Dorf ihre Worte wiederholte, wie ihn die Bäuerin frech empfangen habe. Der beleidigte „Ordnungshüter“ ließ die junge Frau von der Gestapo abholen. Wie die ganze Geschichte ausging, habe ich nie erfahren.

Das dreizehnte und letzte Kind von Veronika war der Josef, der den elterlichen Hof bekommen sollte. In direkter Nachbarschaft wuchs die hübsche Sofie auf. Sofie war das einzige Kind des reichen Nachbarn, der auch noch die Fleischerei im Ort hatte und Jude war. Josef wechselte schließlich ins Nachbargehöft und heiratete seine Sofie auf den elterlichen Hof verzichtend. Sie hatten zwei Söhne, die prächtig heranwuchsen. Der Krieg brach aus, und die Söhne rückten ein und kämpften die ganze lange Kriegszeit an der Ostfront. 1943-44 bekam Sofie Angst, sie wird sicher manches gehört haben, auch wenn es Leute gibt, die behaupten, nichts gewusst zu haben. Sofie hat etwas gewusst und ging eines Tages auf den Dachboden ihres Hauses, um sich die Pulsadern aufzuschneiden. Glücklicherweise fand sie ihr Josef und rief einen Sanitäter, weil er fürchtete, dass ein Arzt ein Protokoll hätte schreiben müssen. Der Sanitäter bekam ein paar Würste und war still, aber er hatte der Sofie die Pulsadern nur notdürftig verbunden, und ihre Hände blieben steif.

Die Ereignisse im Jahr 1945 machten vor Sofie, die nur Deutsch sprach, keinen Halt. Josef und Sofie mit den steifen Händen mussten den weiten und harten Weg in die Fremde gehen wie alle Deutschen aus dem Sudetenland.

Von den beiden, übrigens wie von der gesamten restlichen Familie (Veronika und ihre Kinder lebten in der Postelberger Gegend!), habe ich nie wieder etwas gehört.