Tschechisch: Klausovo znaménko nerovnosti
Lukáš Beer
(Übersetzung: Mathilde Najdek)
Nur kurze Zeit nach der mathematischen Verneblungsleistung der Widerständler-Anführerin Anděla Dvořáková gibt es ein neues Rechenbeispiel, das der derzeitige tschechische Staatspräsident Václav Klaus aufgegeben und durch das Gleichheitszeichen ergänzt hat. In seiner aktuellen kurzen Rede anlässlich der Ereignisse vom 17. November erklärte er nämlich wortwörtlich:
„Sicher können wir nicht stolz darauf sein, was einige unserer Mitbürger nach Kriegsende gemacht haben, indem sie das allgemeine Gefühl der Berechtigung missbraucht haben, alle einer gerechten Strafe zu unterziehen, die den Krieg entfesselt und geführt haben, zur Begleichung ihrer persönlichen Rechnungen oder sogar zu durch nichts zu entschuldigenden sadistischen Aktivitäten in der Hoffnung auf eine kurzfristige Straflosigkeit nach dem Krieg. Aber selbst dabei dürfen wir die Proportionen nicht aus den Augen lassen. Ich meine nämlich, dass die Summe aller nicht zu entschuldigenden und zu nichts Gutem führenden Taten, zu denen es auf unserem Territorium gekommen ist, in ihrem Umfang bei Weitem nicht zu vergleichen ist, mit dem, was in den vorausgegangenen Jahren jede Stunde in Konzentrationslagern, in Gefängnissen, auf Kriegschauplätzen, in den von den Nazis besetzten Gebieten geschehen ist. Ich habe keine genauen Angaben zur Verfügung; aber ich wage es zu glauben, dass auch auf unserem Gebiet im letzten Monat der Besetzung (die insgesamt 75 Monate dauerte) von den Besatzern mehr Menschen umgebracht wurden, als im ersten Nachkriegsmonat ums Leben gekommen sind.“
In diesem kurzen Kommentar ist kein Platz dafür, um heute objektiv im Abstand der Zeit herauszubekommen, wer alles den Zweiten Weltkrieg entfesselt und was alles zum Krieg geführt hat. Aber eines ist nicht wegzudiskutieren, dass in der Vorstellung unserer Mitbürger darüber, „wer“ dieser Schuldige ist und Verursacher war und „wer“ eben diese „gerechte Strafe“ verdient hat. Und in den heißen Nachkriegstagen des Jahres 1945 galt diese Überzeugung vielfach.
Klaus vergleicht in seiner Rede jedoch Unvergleichbares – auf eine diese fiktive Waagschale legt er „die Summe aller nach dem Krieg“ an der hiesigen deutschen Bevölkerung begangenen Taten, und auf die zweite Waagschale dann alles „was, in den vergangenen Jahren jede Stunde in den Konzentrationslagern, in Gefängnissen und auf Kriegsschauplätzen“ geschehen ist, beziehungsweise begrenzt auf den letzten Kriegsmonat. Damit hat er sich auf eine gefährliche Rechnerei eingelassen, die auch statt nach vorn hätte nach hinten losgehen können.
Seine mathematischen Aufgaben werden nie zu einem richtigen Ergebnis führen, denn allein schon die „Aufgabenstellung“ ist nicht ganz in Ordnung. Helfen wir Klaus, alle Werte, die hierher gehören, in die Gleichung korrekt zu ergänzen, oder genauer gesagt – helfen wir ihm andeutungsweise, die Werte aus der Gleichung herauszunehmen, die sich aus Berechnung von Klaus hierher verirrt haben.
Ähnlich wie Anděla Dvořáková hat Klaus in den ersten Teil seines „Vergleichs“ automatisch die Opfer der Protektoratsjuden hinzugezählt, die aus Rassen- beziehungsweise zusätzlich auch aus politischen Gründen verfolgt wurden. Wenn er sich nämlich nur auf die „rein tschechischen Besetzungsopfer“ beschränkt hätte, wäre er bei seiner Rechnerei zu frustrierenden Erkenntnissen gelangt, die seinem Ziel bei Weitem nicht hätten dienen können, eher umgekehrt, es hätte die Wirkung eines Bumerangs gehabt.
Man wird sich mit dieser Absicht weiter einige Fragen stellen. Warum hat Klaus für seine Rechenbeispiele gerade den letzten Monat des Zweiten Weltkriegs gewählt? Dieser Monat umfasst allein schon die Zeit des sog. „Prager Aufstands“ und somit auch das militärische Aufeinanderstoßen der Krieg führenden Seiten. Unter anderem auch deshalb gehört dieser Monat zu den blutigsten. Ein Aufständischer in Prag wurde von den deutschen Soldaten objektiv als auf gleicher Ebene kämpfender Feind erachtet, wie jeder bewaffnete reguläre Angehörige einer feindlichen Allianz. Nicht dafür gehalten wurden aber tschechische Protektoratsbürger, wenn man von einigen bemitleidenswürdigen Fällen absieht, wo deutsche bewaffnete Einheiten im revolutionären Chaos, im Durcheinander, in grässlicher Unsicherheit und Angst, der tschechischen Zivilbevölkerung Gewalt antaten, was mit den Aufständischen nichts direkt zu tun hatte. Die Widerstandskämpfer von den Prager Barrikaden waren keine Opfer, sondern im Kampf Gefallene, wofür sie sich freiwillig entschieden haben. Oder anders gesagt: ein auf einer Prager Barrikade Gefallener ist ebenso ein Opfer wie sein Kampfgegner, wie ein Angehöriger der Wehrmacht oder SS, der an der Front gefallen ist, um so mehr noch, wenn er zum Beispiel von einem in Zivil bekleideten bewaffneten Aufständischen hinterrücks erschossen wurde. Wenn Klaus in sein Beispiel gefallene Aufständische oder Partisanen der letzten Kriegswochen mit einbezieht, muss er zur Gegenseite auch die gefallenen Wehrmachtsangehörigen und SS-Leute vom gesamten Gebiet Böhmens und Mährens hinzuzählen. Eine Ersatzlösung wäre, wenn man aus der Gleichung von Klaus alle im Kampf Gefallenen herausnehmen würde. Aber so würde die Addition von Klaus des letzten Monats tragisch zusammenschrumpfen. Entweder wird Klaus von den gefallenen deutschen Soldaten wie von Opfern sprechen und sie auch als solche erachten, oder er muss damit aufhören, die während des Aufstands Gefallenen als Opfer der „nazistischen Besetzung“ auszugeben. Soviel zu den „Kriegsschauplätzen“ von denen Klaus gesprochen hat.
Eine weitere hinzugerechnete Kategorie bildet dann eine große Gruppe von Menschen, die in Konzentrationslagern und Gefängnissen umgekommen ist. An dieser Stelle muss eine provokative Frage gestellt werden, die sich jeder selbst im Geiste beantworten kann: haben die Revolutionäre ihre „nicht zu entschuldigenden und nichts Gutem dienende Verbrechen“ an Deutschen aus dem Bemühen begangen, um sich für die jüdischen Protektoratsopfer in den Konzentrationslagern gerechterweise zu rächen? Würde man sich in den Beispielen von Klaus lediglich auf die tschechischen Insassen von Konzentrationslagern und Gefängnissen beschränken, also auf politisch Verfolgte und keineswegs auf die rassistisch verfolgten Protektoratsangehörigen, so würde das Beispiel von Klaus wiederum markant schrumpfen. Das ist unangenehm. Ganz zu schweigen davon, dass in den revolutionären Nachkriegstagen eine ganze Reihe deutsch sprechender Juden und Angehörige gemischter deutsch-jüdischer Familien von den Tschechen nicht verschont blieben.
Und letzten Endes gibt es noch einen großen Unterschied, der darin besteht, wenn das nationalsozialistische Regime Tschechen politisch verfolgte, die aus ihrer Sicht auf irgendeine Weise gegen bestimmte gesetzlich klar festgelegte Vorschriften „verstießen“, mit denen die politisch Verfolgten lange vorher bekannt gemacht worden waren, also wussten, welcher Gefahr sie sich aussetzten und theoretisch dem auch aus dem Wege gehen konnten, wie es die größte Mehrheit des tschechischen Volkes gemacht hat. Wogegen die Angehörigen der deutschen Bevölkerung in den wilden Revolutionstagen des Jahres 1945 praktisch straffrei wie ungeschontes Wild zum „freien Abschuss“, und zum Lynchen zur Verfügung standen, also quasi als „vogelfrei“ galten, oder durch das Gesetz „beliebig“ beraubt werden konnten.
Wenn einmal Zeit dafür übrig bleibt, kann man die sonderbaren Rechenbeispiele von Klaus durch konkretere Zahlen widerlegen. Ein besonnener und weiser hochgestellter Staatsmann sollte sich (abgesehen von der Unrichtigkeit der Behauptung von Klaus, wozu der Zitierte, wie er selbst zugegeben hat, keine genauen Angaben hat) niemals dazu herablassen, Zahlenrechnungen von Opfern der einen mit der anderen Seite zu vergleichen.